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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783036961040
Sprache: Deutsch
Umfang: 256 S.
Format (T/L/B): 1.8 x 18.5 x 11.6 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Mit schonungslosem Blick, Melancholie und Witz seziert Simone Meier den schönen Schein moderner Existenzen und Beziehungen, bis nicht mehr nur die Fassaden bröckeln, sondern das ganze Fundament zu beben beginnt.

Autorenportrait

Simone Meier, geboren 1970, ist Autorin und Journalistin. Nach einem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitet sie als Kulturredakteurin, erst bei der WochenZeitung, dann beim Tages-Anzeiger, seit 2014 bei watson. 2020 und 2022 wurde sie zur »Kulturjournalistin des Jahres« gewählt. Bei Kein & Aber erschienen ihre Romane Fleisch, Kuss und Reiz. Simone Meier lebt und schreibt in Zürich.

Leseprobe

Er starrte auf die Wand der Toilette. Sie war von einem appetitlichen Honig-Vanille-Gelb, und die Größe der einzelnen Kacheln erinnerte an quadratisch geschnittene Karamellbonbons. Bei einer Institutsfeier war er derart betrunken gewesen, dass er daran geleckt hatte, er erinnerte sich an den ätzenden Hauch von Putzmittel auf der Zunge. Jetzt war er nicht betrunken, nur erschöpft. Nicht zuletzt von der Frage, die sich seit Tagen in seinem Kopf festgekrallt hatte: Verwandelte sich etwa jede Hausfrau früher oder später aus Frust in eine perfektionistische Furie? Oder hatte er bloß zu viel schlechtes Fernsehen geschaut?Yann und Gerda liebten Sendungen mit Auswanderern oder Hausfrauen. Sie liebten es, Menschen dabei zuzuschauen, wie sie ohne Geld, Sprachkenntnisse oder irgendeine andere Fähigkeit alles aufgaben, nur weil sie zu sehr träumten. Von einem Strand, einer eigenen Bar, endlich mehr Zeit, endlich neuen Tattoos. Meist war Mallorca ihr Ziel. Und nach ein paar Monaten mussten sie verschuldet, desillusioniert und tätowiert zurück in eine alte Heimat ohne weiteren Ausweg. Trotzdem hatten sie etwas gewagt. Wenn auch das Falsche.Die Welt der Fernseh-Hausfrauen war traumlos und schlicht. Sie unterstützten ihre Töchter bei der Wahl des Hochzeitskleides oder verausgabten sich im Wettbewerb um die schönste Torte. Sie waren unausgefüllte Bestien der Biederkeit und entschädigten sich mit maßloser Pedanterie. Gerda war eine Hausfrau. Yann fragte sich, ob er daran schuld war. Ob er seine Unterschrift zu voreilig unter den Mietvertrag für das Haus gesetzt hatte. Ob er Gerda ins Hausfrauendasein hineingetrieben hatte. Schnell drückte er die Toilettenspülung und versuchte, die Frage zu entsorgen. Aber konnte man eine Frau, die nichts anderes tat, als sich mit dem eigenen Haus zu beschäftigen, etwa nicht als Hausfrau bezeichnen? Und wie kam er auf die Idee, Gerda sei frustriert? Vielleicht war sie ja glücklich.Ihm war, als würden seine Gedanken Lärm machen. Sich durch die Tür der Toilette fräsen und kreischend in dem gelb gekachelten Raum kreisen. Sich im ganzen Institut verbreiten, bis alle wüssten: Yanns Frau macht keinen unbezahlten Urlaub, wie sie behauptet, Yanns Frau ist in Wirklichkeit arbeitslos, und weil sie für den Arbeitsmarkt nicht taugt, ist sie jetzt eben Hausfrau. Yanns Frau macht nichts, als seine Socken zu waschen, für ihn zu kochen, das Haus zu putzen, seinen Abfall und ihre Wünsche zu beseitigen. In Ermangelung von Sinnvollerem. Hoffentlich wird sie bald schwanger, würden sich seine Institutskollegen denken, dann hätte sie wenigstens ein Kind. Dann könnte sie sich wenigstens als Mutter und Hausfrau bezeichnen.Und wenn sie es schon jetzt dachten? Egal. Er liebte Gerda. Keinen Tag hatte er in den drei Jahren ihrer Beziehung daran gezweifelt. Sie war noch immer die bezauberndste Frau, die sich jemals in sein Leben verirrt hatte, ein Rätsel, doch ein lichtes Rätsel, nicht ganz durchschaubar, aber grundsätzlich von dieser sonnigen Unbeschwertheit, die junge Floristinnen oder Cafébesitzerinnen in romantischen Filmen ausstrahlten. Er war überzeugt, dass ihre Erwerbslosigkeit bald vorübergehen würde, weil er sie für geschickt hielt, für kompetent, wenn er eine entsprechende Stelle zu vergeben hätte, Gerda würde sie bekommen. Und obwohl sie schon ohne Job gewesen war, als sie im Sommer aus der Innenstadt in das Haus am Stadtrand gezogen waren, hatte er daran geglaubt, dass ihr Glück nun wachsen könne. Ein Glück so groß wie ein Haus, hatte er sich vorgestellt, dabei hatte das Haus genauso viele Quadratmeter wie seine alte Wohnung, nämlich zweiundachtzig. Auf zwei Stockwerke verteilt. Ein süßes kleines Haus, das letzte in einer von zwölf Reihen mit je acht Häusern. Eins von sechsundneunzig Häusern also.Wer zu Geld gekommen war, kaufte sich jetzt eins dieser alten Arbeiterhäuser, man konnte sich darin eins fühlen mit den Familien, die früher hier gewohnt hatten, den Fabrikarbeitern aus Italien, deren Kinder die Gärten und die gelben Kieswege belebt und mit Holzreifen und Bällen gespielt hatten. Jedenfalls s zur Arbeit aufgebrochen war, hatte sie im Wohnzimmer vor einer Ecke gestanden und gesagt: »Das ist ja nicht zum Aushalten! «»Wie, nicht zum Aushalten?«, hatte er gefragt. »So Feng- Shui-mäßig?«»Das vielleicht auch, aber die Raumproportionen stimmen nicht, da muss irgendwas hin, und zwar exakt auf dieser Höhe.« Sie zog mit ihrer Handkannte eine Linie von ihrem Schlüsselbein zur Wand.»Ist das nicht zu tief für ein Bild?«»Davon verstehst du nichts, geh Geld machen.«Wenn er am Abend nach Hause kam, würde sich der Raum kaum wahrnehmbar verändert haben, sie hätte eine Wand leicht anders gestrichen, etwas aufgehängt, einen Tapetenstreifen geklebt, alles wäre stimmiger, anmutiger, aufregender. Und ohne es zu wollen, dachte er: Das also war es, was Großvater früher meinte, als er vom Feierabend schwärmte. Vom Heimkommen.Trotzdem hätte er zu gern gewusst, was in ihr vorging, wenn sie sich stur vor eine Wand stellte oder wenn ihr über einem seiner vielen kleinen Häufchen - aus Zeitungsartikeln, Büchern, Sitzungspapieren - fast die Tränen kamen. Ob das vielleicht der Anfang einer Depression war? Er ließ sie dann lieber in Ruhe, sie dekorierte die Wand, verschob das Häufchen und wurde wieder zur normalen Gerda, die im Haus so viel Beschäftigung fand, dass sie sich keine Sorgen über ihre Lage machte. Wobei die Lage ja gar keine war. Er verdiente genug, und das Haus schien Gerdas Berufung zu sein. Es war bloß kein Modell, das man jetzt, nach rund einem Fünftel des einundzwanzigsten Jahrhunderts, noch zu vertreten wagte.Er erinnerte sich sehr gut: Ein uralter Onkel hatte seiner Schwester zu ihrem achten Geburtstag einen Schal mit Ponys drauf geschenkt, die Schwester hatte sich gefreut und den Schal auseinander- und wieder zusammengefaltet, immer wieder, und der Onkel hatte gesagt: »Man muss den Weibern einfach was zum Aufräumen geben, damit sie zufrieden sind.« Er hatte sich für den Onkel geschämt und sich neben seine Schwester gekniet und mit ihr den Schal minutenlang auf- und zugefaltet. Aber was, wenn der Onkel recht hatte? Nicht richtig recht natürlich, aber in Spurenelementen?Yann war ein guter Mann, das nahm er für sich in Anspruch. Er war monogam, auch im Kopf, hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern, bezahlte noch immer Kirchensteuer, um seiner Familie einen Gefallen zu tun, und unterstützte die Frauenquote. Er aß am liebsten Gerichte aus Ländern, die an Meere grenzten, schaute gerne skandinavische Serien und mochte alle Bücher von Haruki Murakami. Ikea fand er gut wegen der witzigen Werbung, H & M dagegen schlecht wegen der sexistischen Kampagnen und der Kinderarbeit. Trotz der gefährdeten Vögel befürwortete er die Windenergie. Die Vögel mussten sich eben wie jedes Lebewesen an die Windräder gewöhnen, die waren ja nicht dumm. Der Fortschritt kam schließlich auch ihnen zugute. Als Sohn eines Eisenwarenhändlers unterstützte er den Einzelhandel und da...

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