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Körperführung

Historische Perspektiven auf das Verhältnis von Biopolitik und Sport

Erschienen am 09.05.2018, 1. Auflage 2018
46,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593508436
Sprache: Deutsch
Umfang: 335 S.
Format (T/L/B): 2.2 x 21.6 x 14.3 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Sport und körperliche Bewegung sind heute tief in die Lebensführung einzelner Menschen wie auch ganzer Bevölkerungsgruppen integriert. Das Streben nach Fitness ist ein Kennzeichen gegenwärtiger Gesellschaften, das Identifikationsraster bereitstellt und Inklusionswie auch Exklusionseffekte zeitigt. Der vorliegende Band geht diesen Phänomenen in historischer Perspektive nach. Erstmals wird dazu das von Michel Foucault geprägte Paradigma der Biopolitik - eine "moderne" Machtform, in der die Regulierung des individuellen wie kollektiven "Lebens" ins Zentrum politischer Strategien rückt - systematisch auf sporthistorische Untersuchungsgegenstände bezogen.

Autorenportrait

Stefan Scholl, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Siegen.

Leseprobe

Einleitung: Biopolitik und Sport in historischer Perspektive Stefan Scholl Regelmäßiges Sporttreiben gehört für eine immer weiter steigende Zahl von Menschen fest zum alltäglichen Leben. Dabei werden die traditionellen Sportverbände - die mitgliederstärksten sind der Deutsche Fußballbund (etwas über 7 Millionen Mitglieder im Jahr 2017) und der Deutsche Turnerbund (knapp 5 Millionen Mitglieder im Jahr 2017) - mittlerweile von den kommerziellen Fitnessstudios überholt, in denen Ende 2016 knapp über 10 Millionen Menschen angemeldet waren. Neue Trends weisen einerseits in Richtung sogenannter Mikrostudios, die auf kleiner Fläche eine enge Trainingsbetreuung garantieren, andererseits in Richtung digitaler Selbstkontrolle des eigenen, individuellen Sporttreibens. Für die eigene Initiative, sich körperlich-sportlich zu betätigen, wird auch kräftig geworben: Neben die auflagenstarken Fitness- und Lifestyle-Magazine wie Women's Health, Men's Health, Shape oder Fit for fun sind zahlreiche Profile und Kanäle in den digitalen sozialen Medien getreten, die ein Millionenpublikum erreichen. Doch nicht nur einzelne Fitnessstars und kommerzielle Anbieter versprechen durch ihre Programme und Angebote flache Bäuche, Muskelberge oder ein gesteigertes körperliches und geistiges Wohlbefinden. Auch viele Krankenkassen regen durch ein Prämiensystem zur Wahrnehmung von Sportangeboten an. Im Jahr 2008 starteten das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (damals noch mit dem Zusatz Verbraucherschutz) und das Bundesministerium für Gesundheit die Kampagne "InForm. Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung". Ein seitdem laufender "Nationaler Aktionsplan" formuliert das Ziel, "dass Kinder gesünder aufwachsen, Erwachsene gesünder leben und dass Alle von einer höheren Lebensqualität und einer gesteigerten Leistungsfähigkeit profitieren. [] Es werden Strategien und Maßnahmen entwickelt, die das individuelle Verhalten einbeziehen und die regionale und nationale Ebene berücksichtigen. Es werden Strukturen geschaffen, die es Menschen ermöglichen, einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu führen." Teil der Maßnahmen ist unter anderem ein "Rezept für Bewegung", das vom Deutschen Olympischen Sportbund in Zusammenarbeit mit der Deutschen Ärztekammer und der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin erarbeitet wurde und mit dem Ärztinnen und Ärzte ihren Patientinnen und Patienten gesundheitsorientierte Sport- und Bewegungsangebote empfehlen können. Auch auf europäischer Ebene lassen sich in jüngerer Zeit vermehrt Aktivitäten zur Propagierung des individuellen oder im Verein stattfindenden Sporttreibens beobachten. Seit 2015 etwa fördert die Europäische Kommission unter dem Slogan "#BeActive" einmal jährlich die "Europäische Woche des Sports". Wie von einigen jüngeren sportsoziologischen und -historischen Beiträgen hervorgehoben, enthält der gegenwärtige Sport- und Fitnessboom zugleich erweiterte Handlungsspielräume für individuelles oder kollektives Sporttreiben wie auch ein Anforderungs-, ja mithin Disziplinierungsregime, in dessen Rahmen die eigenverantwortlich wahrgenommene Sorge um den eigenen Körper durch sportliche Aktivität zu einem Erfordernis wird. So handelt es sich zwar nur um einen Marketing-Gag, scheint in diesem Zusammenhang jedoch äußerst vielsagend, wenn eine Fitnessstudio-Kette in Köln mit dem Untertitel "die Fitness-Polizei" für ihr Angebot wirbt: Die Nicht-Wahrnehmung der Aufgabe, sich körperlich "fit" zu halten, rückt damit in die Nähe eines Delikts. Angesichts des Stellenwerts, den Fitness und sportlich-körperliche Aktivität im Leben einzelner Menschen, aber auch für das Leben des, wie auch immer imaginierten, Bevölkerungskollektivs einnimmt, erstaunt die Tatsache, dass das von Michel Foucault geprägte Analysekonzept der Biopolitik bisher so selten in sportsoziologischen oder -historischen Untersuchungen ins Spiel gebracht worden ist. Dabei liefert es ein geeignetes Interpretationsschema für die hier skizzierten Phänomene, deren Geschichte mehr als ein Jahrhundert zurückreicht. Denn spätestens seit dem 19. Jahrhundert haben sich zahlreiche diskursive und praktische Verknüpfungen zwischen sportlichen respektive bewegungskulturellen Phänomenen und der Gesundheit der Einzelnen wie auch des Bevölkerungskollektivs herausgebildet. Sie äußerten sich in Kampagnen und Appellen zur sportlich-körperlichen Selbstführung im Namen der Gesundheit, aber auch des nationalen Wohlergehens bzw. der nationalen Überlebensfähigkeit, in Praktiken der datenmäßigen Erfassung und der Einwirkung auf den individuellen wie auch den "Bevölkerungskörper" durch unterschiedliche Instanzen sowie in einer gesteigerten Reflexion wiederum unterschiedlichster Akteure über das "Wie" solcher Maßnahmen. Wie Henriette Gunkel und Olaf Stieglitz jüngst festgehalten haben, korrespondierte "die Etablierung des modernen Sports [] mit der Herausbildung einer biopolitischen Gesellschaftsordnung, in der individuelle, leistungs- und reproduktionsfähige Körper effizient zu einem gesunden und starken Kollektivkörper verschmelzen sollten." Der vorliegende Band, der aus einer Tagung hervorgegangen ist, die im Herbst 2016 an der Universität Siegen stattfand, möchte dieser Korrespondenz nachspüren und das Analysekonzept der Biopolitik an ausgewählte, recht unterschiedliche Fallbeispiele aus der Sportgeschichte anlegen. In dieser Einleitung soll in einem ersten Schritt die analytische Perspektive umrissen werden, die die hier versammelten Beiträge eint. Im zweiten Teil wird der Versuch unternommen, eine historische Skizze der Herausbildung biopolitischer Konstellationen im Bereich der Leibesübungen und des Sports seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu liefern. Die inhaltlichen Schwerpunkte der einzelnen Beiträge sollen dabei herausgearbeitet und gemeinsame Akzentsetzungen verdeutlicht werden. 1. Biopolitik und Gouvernementalität als Analyserahmen Mit dem Begriff der Biopolitik entwarf Foucault am Ende seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76) und in Der Wille zum Wissen (1977) das Panorama eines historischen Umbruchs seit dem 18. Jahrhundert, in dem die Regulierung des individuellen wie kollektiven "Lebens" ins Zentrum politischer Strategien rückte. Die souveräne "Macht über den Tod" wurde - so Foucault - "zunehmend von einer neuen Machtform überlagert, deren Ziel es ist, das Leben zu verwalten, zu sichern, zu entwickeln und zu bewirtschaften." Das "Leben", nicht im biologistisch-essentialistischen Sinne, sondern als in diesem Prozess konstituierter Wissensbereich, tauchte im 18. Jahrhundert "als politischer Einsatz, als Gegenstand politischer Strategien" auf: "Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann. [] [Die Tatsache des Lebens] wird zum Teil von der Kontrolle des Wissens und vom Eingriff der Macht erfaßt." Ohne auf die einzelnen Aspekte im Detail weiter einzugehen, schreibt Foucault von einer "Expansion der politischen Technologien [], die von nun an den Körper, die Gesundheit, die Ernährung, das Wohnen, die Lebensbedingungen und den gesamten Raum der Existenz besetzen." Laut Foucault ordnete sich Biopolitik um zwei miteinander verbundene Pole herum an: Den einen Pol bildet der individuelle menschliche Körper, "[s]eine Dressur, die Steigerung seiner Fähigkeiten, die Ausnutzung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner Gelehrigkeit". Der zweite Pol bezieht sich auf den Gattungs-Körper, d.h. die "Bevölkerung", die als Wissensobjekt sowie als Zielscheibe regulierender und kontrollierender Maßnahmen konstituiert wird. Die "Bevölkerung" tauchte im Laufe des 17. und 18. Jahrhundert als Problem verschiedener Wissensarten auf - Foucault nennt die politische Ökonomie, die Biolo...