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Das Narrenschiff

Roman

Erschienen am 27.09.2010
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783717522201
Sprache: Deutsch
Umfang: 704 S.
Format (T/L/B): 4.8 x 22 x 14.5 cm
Einband: Leinen

Autorenportrait

Katherine Anne Porter (1890-1980), als Halbwaise schon früh auf sich gestellt, begann ihre Karriere als Journalistin in Chicago und schrieb ihre ersten Erzählungen in Mexiko. Längst eine renommierte Autorin, begann sie 1941 mit der Niederschrift von «Ship of Fools». Als der sehnlich erwartete Roman 1961 erschien, begründete er den Weltruhm der Amerikanerin. 1966 erhielt sie für ihre Stories den Pulitzer-Preis.

Leseprobe

ugust 1931. - Für Reisende ist die Hafenstadt Veracruz ein kleines Fegefeuer zwischen Land und Meer, ihre Bewohner aber sind sehr stolz auf sich und ihre Stadt, die zum Teil ihr Werk ist. Ihr Dasein wird von den örtlichen Sitten und Gebräuchen bestimmt, die ihre Geschichte und Wesensart widerspiegeln, und in der angenehmen Vorstellung, ihre Gewohnheiten und Gefühle wären über jede Kritik erhaben, führen sie ihr abwechselnd gewalttätiges und lethargisches Leben in einer erfreulichen Verachtung für die Meinung Außenstehender. Wenn sie eines ihrer zahlreichen privaten und öffentlichen Feste gefeiert haben, veröffentlichen die Zeitungen lyrische Ergüsse über den fröhlichen Verlauf, über die Üppigkeit und aristokratische Vornehmheit - zwei Ausdrücke, die sie für Synonyme halten - der Dekoration und Bewirtung; und sie können nicht genug rühmen, wie gewandt und feinfühlig die gute Gesellschaft zwischen feinster Lebensart und zwanglosem Amüsement zu balancieren verstehe - ein Geheimnis der Welt von Veracruz, das die provinzielle Gesellschaft des Hinterlands mit bitterem Neid und überdies erfolglos nachzuahmen sucht. 'Nur unsere Bevölkerung versteht sich frei und doch zivilisiert zu amüsieren', schreiben sie und fahren fort: 'Wir sind ein großzügiger und warmherziger, ein gastfreier und feinfühliger Menschenschlag.' Solche Auslassungen sind nicht nur für die Leser in der eigenen Stadt bestimmt, sondern auch für die polyglotten Barbaren2 der Hochebene, die allen Gegenbeweisen zum Trotz Veracruz nur als ein verpestetes Hafennest betrachten. Vielleicht ist in dieser streitbaren Betonung feiner Lebensart ein klein wenig Unsicherheit zu spüren, genau wie in der systematisch brutalen Behandlung, die für gewöhnlich den Passagieren zuteil wird, die auf dem Weg zu der vorübergehenden Geborgenheit eines im Hafen wartenden Schiffs durch die Hände der Veracruzanos gehen müssen. Die Durchreisenden haben keinen anderen Wunsch, als dieser Stadt den Rücken zu kehren, und die Leute von Veracruz wünschen sich nichts sehnlicher, als sie wieder los zu sein - aber erst, nachdem sie alle erdenklichen Zölle, Gebühren, Erpressungs- und Bestechungsgelder aus ihnen herausgequetscht haben, die der Stadt und ihren Bürgern zustehen. In den Augen des Durchreisenden ist Veracruz wirklich eine typische Hafenstadt, zynisch von Natur und schamlos durch Erfahrung, die sich den Fremden hemmungslos von ihrer schäbigsten Seite zeigt; neun von zehn dieser Passagiere sind Schafe, die danach blöken, geschoren zu werden, und der zehnte ist ein Schurke, und es wäre ewig schade, ihn nicht zu begaunern. Jedenfalls muss man zusehen, aus jedem so viel Geld wie möglich herauszuholen, und die Zeit dafür ist immer knapp. In der weißglühenden Hitze eines frühen Augustmorgens schlenderten einige friedliche Bürger in weißen Leinenanzügen im staubigen Schatten der nachtduftenden Goldkelchsträucher über den hartgedörrten Boden der Plaza und ließen sich auf der Terrasse des 'Palacio'-Hotels nieder. Sie streckten die Beine, um ihre Schuhsohlen abzukühlen, begrüßten den schmuddeligen kleinen Kellner mit Namen und bestellten eisgekühlte Limonade. Sie alle waren seit Generationen zusammen aufgewachsen und hatten gegenseitig ihre Kusinen, Schwestern oder Tanten geheiratet; jeder wusste über die Geschäfte jedes anderen Bescheid, jeder erzählte jedem anderen jeden Klatsch, der ihm zu Ohren kam, und ließ sich das Erzählte geduldig wiedererzählen, ja, man leistete einander bei der Geburt solcher Geschichtchen mit der intimen Sachkenntnis einer Hebamme Hilfestellung. Und doch trafen sie sich hier fast allmorgendlich auf dem Weg in ihre Läden oder Büros zu einer letzten Rast vor dem Ernst der Tagesarbeit, um über die neuesten Ereignisse auf dem Laufenden zu bleiben. Der Platz war menschenleer bis auf einen ausgemergelten kleinen Indio, der unter einem Baum auf einer Bank saß, einen Bauern in vergilbten weißen Baumwollunterhosen, langem Hemd und mit einem breitkrempigen alten Strohhut, den

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